Die Diagnose Krebs traf mich wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Als ich die Worte des Arztes hörte, fühlte sich die Zeit an, als würde sie stillstehen. Mit zitternden Händen griff ich nach meinem Krebstagebuch – einem schlichten, blauen Notizbuch, das mich durch die kommenden Monate begleiten sollte. Es wurde nicht nur zum Dokumentationsort meiner medizinischen Reise, sondern zum stillen Zeugen meiner tiefsten Gedanken und Gefühle.
Der Beginn einer unerwarteten Reise
Die ersten Einträge in meinem Tagebuch waren geprägt von Angst und Ungewissheit. Diagnosen, Fachbegriffe, Behandlungsoptionen – alles überwältigende Informationen, die ich kaum verarbeiten konnte. Das Führen eines Krebstagebuchs wurde mir von meiner Onkologin empfohlen, um Ordnung ins Chaos zu bringen. Anfangs schrieb ich nur medizinische Fakten nieder: Medikamente, Termine, Nebenwirkungen. Doch mit der Zeit änderte sich der Charakter meiner Einträge.
„17. März: Heute war die zweite Chemotherapie. Die Ärztin sagt, die Blutwerte sehen besser aus als erwartet. Ich bin erschöpft, aber auch ein wenig stolz, dass mein Körper kämpft. Clara hat mir Blumen mitgebracht und den ganzen Nachmittag bei mir gesessen. Wir haben alte Fotos angeschaut und über unsere Reise nach Italien gelacht.“
Zwischen den klinischen Notizen fanden immer mehr persönliche Momente ihren Weg auf das Papier – kleine Siege, unerwartete Freuden, aber auch Momente der Verzweiflung.
Mein Tagebuch als emotionaler Anker
Was als simple Dokumentation begann, entwickelte sich zu einer Form der Therapie. Die Seiten meines Tagebuchs wurden zum Ort, an dem ich Gefühle ausdrücken konnte, die ich manchmal nicht einmal auszusprechen wagte:
- Die Angst, meine Kinder nicht aufwachsen zu sehen
- Die Wut über die Ungerechtigkeit der Diagnose
- Die Dankbarkeit für jeden schmerzfreien Tag
- Die überwältigende Liebe für Menschen, die bedingungslos an meiner Seite standen
Das Schreiben half mir, Gedanken zu ordnen, die sonst wie ein Wirbelsturm in meinem Kopf kreisten. Es bot mir einen sicheren Raum, menschlich zu sein – mit allen Höhen und Tiefen, die eine Krebserkrankung mit sich bringt.
Von der Dokumentation zur Selbstfindung
„2. Juni: Heute habe ich mich zum ersten Mal seit der Diagnose im Spiegel angeschaut – wirklich angeschaut. Meine Augen sind dieselben, auch wenn die Haare fehlen. Ich erkenne die Frau, die zurückblickt. Sie ist verändert, aber nicht gebrochen.“
Mit jedem Eintrag wurde deutlicher, dass das Tagebuch mehr war als ein Krankheitsprotokoll – es wurde zum Spiegel meiner Transformation. In den Zeilen erkannte ich eine Stärke, von der ich nie wusste, dass ich sie besitze. Zwischen den Berichten über Übelkeit und Erschöpfung entdeckte ich Momente tiefer Erkenntnis und unverhoffter Freude.
Die Seiten füllten sich mit:
- Erinnerungen an besondere Begegnungen im Krankenhaus
- Reflexionen über neu entdeckte Prioritäten
- Listen von Dingen, für die ich trotz allem dankbar war
- Träume und Pläne für die Zeit nach der Behandlung
Gemeinsam durch die Dunkelheit: Mein Tagebuch als Brücke
Eines Tages fragte mich meine älteste Tochter vorsichtig, ob sie mein Tagebuch lesen dürfe. Nach kurzem Zögern gab ich es ihr. Es war ein Moment der Verletzlichkeit, aber auch der Verbindung. Meine Worte halfen ihr, die Reise aus meiner Perspektive zu verstehen – abseits der medizinischen Fakten, die für ein Kind oft unbegreiflich bleiben.
„Papa hat mir dein Tagebuch gegeben. Jetzt verstehe ich, warum du manchmal so müde bist, aber trotzdem lächelst. Ich bin stolz auf dich, Mama.“ – Die Notiz meiner Tochter, die ich zwischen den Seiten fand, bleibt einer der wertvollsten Einträge.
Das Tagebuch wurde zum Kommunikationsmittel, wenn die Worte im direkten Gespräch fehlten. Es half meinen Lieben, meine innere Welt zu verstehen, und mir, ihre Sorgen und Ängste zu erkennen.
Vom privaten Tagebuch zum geteilten Erfahrungsschatz
In einer Selbsthilfegruppe erzählte ich von meinem Tagebuch. Zu meiner Überraschung baten mich mehrere Teilnehmer, Auszüge daraus vorzulesen. Ihre Reaktionen zeigten mir, wie universell viele meiner Erfahrungen waren – und wie selten wir darüber sprechen.
„Genau so fühlt es sich an, aber ich konnte es nie in Worte fassen!“ – Der Kommentar einer Mitpatientin bestärkte mich in dem Gedanken, dass persönliche Geschichten eine heilende Kraft haben können.
Was als privates Ventil begann, entwickelte sich zu einem Werkzeug, mit dem ich anderen Betroffenen Mut machen konnte. Das Teilen ausgewählter Passagen – in der Gruppe, später in einem kleinen Blog – schuf Verbindungen und durchbrach die Isolation, die Krebs oft mit sich bringt.
Mein Krebstagebuch heute: Ein Zeugnis der Transformation
Heute, Jahre nach der letzten Behandlung, nehme ich das Tagebuch manchmal noch zur Hand. Die Seiten sind vergilbt, manche Tinte verwischt von längst getrockneten Tränen. Es ist ein Dokument einer Zeit, die ich nie vergessen werde – aber nicht mehr definiert, wer ich heute bin.
Die letzten Einträge handeln weniger von Krebs und mehr vom Leben danach. Von ersten Urlauben, beruflichen Neuanfängen, vom Alltäglichen, das plötzlich außergewöhnlich erscheint:
„Heute habe ich im Garten gearbeitet. Die Erde unter meinen Fingern, die Sonne auf meinem Gesicht – es fühlt sich an wie ein Wunder, einfach hier zu sein und die Rosen zu schneiden. Ich habe Pläne für den nächsten Frühling gemacht. Pläne zu machen fühlt sich wie ein Akt des Vertrauens an.“
Das Tagebuch begleitet mich weiterhin, nicht mehr als Krebstagebuch, sondern als Lebenschronik. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass Worte heilen können – die geschriebenen und die geteilten. Sie schaffen Klarheit in Momenten der Verwirrung und Verbindung in Zeiten der Einsamkeit.
Für alle, die gerade am Anfang ihrer eigenen Geschichte mit Krebs stehen, möchte ich sagen: Ein Tagebuch kann mehr sein als eine Aufzeichnung von Symptomen und Terminen. Es kann zum Kompass werden, der in stürmischen Zeiten Orientierung bietet – und vielleicht sogar zum Wegweiser für andere, die nach euch kommen.